Die russische Oktoberrevolution von 1917 kann aus heutiger Sicht sicherlich zunächst als der erste reale Versuch gesehen werden, sozialistische Theorie in der Wirklichkeit zu erproben. Die beteiligten Akteur*innen der Revolution verstanden eine materialistische Geschichtsauffassung, welche den Kern ihrer Überzeugungen bildete und bereits Anfang des 20. Jahrhunderts über eine beachtliche philosophische Tradition verfügte, als konkrete Aufforderung, den Sozialismus aus den Köpfen auf die Straße zu überführen. Die Errichtung eines sowjetischen Staates sollte hierbei nur die erste Stufe des letzten Kapitels einer Geschichte der Klassenkämpfe bilden, von der aus in einer nahen Zukunft der endgültige Sieg des Weltproletariats ausgehen würde.
Der Wunsch, die Idee von der befreiten Gesellschaft in die Tat umzusetzen, mündete jedoch allzu bald in einem repressiven und autoritären Staat, der seine Macht zunehmend nur durch feste Hierarchien und ideologische Linientreue aufrechterhalten konnte. Bis heute kreisen endlose Diskussionen um die Gründe für diese Entwicklung, die ihre Ansätze und Utopien ins Gegenteil verkehrte. Diese beginnen teilweise bereits an der Frage, ob eine autoritäre Entwicklung des real aufgebauten Sozialismus bereits der sozialistischen Theorie bolschewistischer Prägung inhärent gewesen sei. Des weiteren wird der „Mythos Sowjetunion“ zum posthum um Interpretationshochheit umkämpftes Terrain, das aus nahezu allen Richtungen attackiert und politisch instrumentalisiert wird: In seiner Negativwendung dient er als vermeintlicher Beweis einer „Realitätsferne“ und Gefahr kommunistischer Ideen per se.
Vertreter*innen gesellschaftsdominanter Ideologien kapitalistischer Staaten nutzt die Dämonisierung des autoritären sowjetischen Staatssozialismus in seiner Gleichsetzung mit jeglichen gegenwärtigen libertären gesellschaftlichen Bewegungen, eine Mär vom einzig selig-machenden Ende der Geschichte in Form des jetzigen nationalstaatlich-kapitalistischen status quo zu verbreiten.
In Teilen der Linken hingegen scheint es bis heute Mode zu sein, sich als Apologeten*innen der Sowjetunion und anderer zentralistisch geführter sozialistischer Regimes hinter Bildnissen von Führungspersönlichkeiten zu verschanzen, autoritäre Linientreue zu rechtfertigen und – im besten Fall mit einem Augenzwinkern – von GULAGs für politische Feind*innen zu träumen.
Aus libertärer Sicht können diese Extreme sicherlich leicht als Formen falschen Bewusstseins oder ideologischer ‚Kriegsführung‘ abgetan werden. Dabei darf jedoch nicht vergessen werden, dass darüber hinaus eine unüberschaubare Anzahl an Zwischentönen innerhalb linker und emanzipatorischer Bewegungen den „Mythos Sowjetunion“ zur politischen Gretchenfrage werden lässt, deren Beantwortung oftmals über mögliche Kooperation mit dem politischen Gegenüber oder über dessen Disqualifizierung entscheidet.
Eine heutige emanzipatorische politische Bewegung, die antikapitalistischen und sozialen Kämpfen verpflichtet ist, kommt nicht ohne das Bewusstsein aus, dass auch die eigenen Kämpfe in eine lange revolutionäre Tradition eingebunden sind – ob sie deren einzelne Erscheinungen und ideologischen Ausformungen aus gegenwärtiger Sicht selbst unterstützen oder nicht. Eine Auseinandersetzung mit der „eigenen Geschichte“ ist somit ein wichtiges Feld für Kritik historischer Vorbilder – und dadurch nicht zuletzt auch eine Möglichkeit für solidarische Selbstkritik, als Ausgangspunkt für gegenwärtige und zukünftige Kämpfe. Nur durch eine Aneignung der „eigenen Vergangenheit“ und eine kritische Bezugnahme auf Vorläufer-Bewegungen können unsere libertären und emanzipatorischen Strukturen glaubwürdig und flexibel bleiben.
Eine nicht vollzogene Selbstkritik hingegen bedeutet, das Feld und die politische Deutungshoheit über kommunistische, anarchistische und andere libertäre Weltentwürfe politischen Gegnern*innen und einer gesellschaftlich dominanten Ideologie kampflos zu überlassen.
Das sowjetische Russland verwandelte sich innerhalb einer kurzen Zeitspanne von einer gelebten Utopie, in der neue Lebens- und Organisationsentwürfe hitzig diskutiert und ausprobiert werden konnten, zu einem trägen, zentralistisch geführten und ideologisch gleichgeschalteten Koloss, der seine Macht mit (fast) allen Mitteln aufrechtzuerhalten suchte, der politische Abweichler*innen verfolgte und eine andauernde Atmosphäre der Angst gegenüber inneren und äußeren Feinden schürte.
So sehr diese Entwicklung keine wünschenswerte Perspektive für eine heutige libertäre Linke sein kann, so sehr zeigt sie dennoch die immanente Gefahr von politischem Dogmatismus und sektiererischer Linientreue allen Widersprüchen zum Trotz.
Es bleibt Aufgabe eines libertären Bewusstseins, den Spagat zwischen historischer Verantwortung, der eigenen politischen Tradition und heutigen Kämpfen vollziehen können, ohne sich in ideologischen Grabenkämpfen zu verheddern und ohne die aktuellen politischen Entwicklungen – auch innerhalb der eigenen Szene – aus den Augen zu verlieren.
Oldschool bleiben – neue Wege beschreiten.
North-East Antifascists [NEA]