Krise, Klima, Klopapier
Die Krise ist zurück: Nach der Asienkrise (1997), dem Platzen der Dotcom-Blase (2000) und der so genannten Finanzkrise (ab 2008) steuert nun alles mit Volldampf auf die nächste große ökonomische Krise zu. Dieses Mal ist es eine Pandemie, die alles ins Trudeln bringt, und damit den Ausbruch der Krise vorwegnimmt. Doch was auch immer die Auslöser nun sein mögen – ob nun partiell oder wie bereits 2008 allgemein, ob territorial einigermaßen begrenzt oder global: Ökonomische Krisen sind offensichtlich ein fester Bestandteil der auf Profit und Markt ausgerichteten Gesellschaftsordnung.
Die Besonderheiten der jeweiligen Krisenverläufe einmal außen vorgelassen, sind die allgemeinen Muster von verblüffender Ähnlichkeit. Zunächst wirtschaftliche Erholung mit Krediten zur Finanzierung des Aufschwungs. Dann folgt beschleunigtes Wachstum und Euphorie. Schließlich Kursstürze, Panikverkäufe, Zusammenbruch und massenhafte Insolvenzen. Während in den zyklischen Wachstumsperioden die Wirtschaftsliberalen die gefragten Talkshowgäste sind, schlägt in der Krise stets die Stunde der Protektionist*innen und Keynesianer*innen. Täglich grüßt das Murmeltier!
Funke…
Auch jetzt rufen alle wieder nach Staatshilfen. Von den (Solo-)Selbstständigen über den Mittelstand bis zum transnationalen Unternehmen, von der Szenekneipe bis zu Apple und VW: Unternehmen drosseln die Produktion oder stellen sie ganz ein. Löhne werden gekürzt, massenhaft Erwerbstätige auf die Straße gesetzt. Das Bruttosozialprodukt und der Ölpreis stürzen ab, Pleitewellen sind im Anmarsch. Der IWF rechnet mit der größten Krise seit der Großen Depression und die Konjunktur- und Rettungsprogramme übersteigen in ihrem Umfang bereits jetzt alle bis hierher bekannten.
Dass der Krisenauslöser dieses Mal eine Pandemie ist, bringt neben diesen allgemeinen Mustern natürlich Besonderheiten (hierzulande) unbekannten Ausmaßes mit sich: Ausgangssperren, Quarantäne, Mobilmachung der Armee. Erhöhte Repressionsmaßnahmen des Staates und drastische Einschnitte in die Rechte der Lohnabhängigen sind zwar oft Begleiterscheinungen ökonomischer Krisen – aber wer sollte sich trauen, diese im Zeichen des grassierenden Virus in Frage zu stellen? Der herrschenden Politik ist es zuvor schon gelungen den Gesundheitssektor und die Krankenhäuser ohne stärkeren politischen Gegenwind kaputt zu sparen. Die (Spät)folgen der letzten Krisenbewältigung werden nun schmerzlich spürbar und die sozialen Abwehrkämpfe müssen wohl oder übel auf die Tage nach der Ausbreitung des Virus verschoben werden.
Doch eine Frage drängt nach Beantwortung: Sollten wir überhaupt noch von gängigen zyklischen Krisen sprechen? Oder müssen wir nicht vielmehr, was die derzeitige gesellschaftliche Entwicklung betrifft, bereits von einer allgemeinen Krise, einer Krise in Permanenz reden? Denn auch wenn die mediale Öffentlichkeit allem Anschein nach immer nur ein Thema zur selben Zeit behandeln kann, sollten wir nicht vergessen, dass wir gerade erst damit angefangen hatten, endlich über die Klimakrise und ihre dramatischen Auswirkungen zu debattieren. Nicht nur die Rekordwerte unserer „winterlichen“ Temperaturen sollten daran erinnern, dass die Klimakrise eben kein mediales Intermezzo war. Vielmehr gehen wir unentwegt und mit Siebenmeilenstiefeln auf irreversible Kipppunkte des Ökosystems zu. Ab diesen werden verstärkende Rückkopplungen einsetzen, die zu einem Lawineneffekt werden dürften. Erinnert sei hier nur kurz an das arktische Meereis, den grönländischen Eisschild oder die tauenden Permafrostgebiete. Sind unsere derzeitigen Notstandsgesetze vielleicht nur ein Vorgeschmack auf das, was uns erwartet, wenn die Wetterextreme über uns hereinbrechen und die Reichen und Schönen sich in ihren wetterfesten Luxusbunkern verschanzen werden? Vor uns die Sintflut, nur leider „rettet uns kein höheres Wesen“…
…und Pulverfass
Wirtschaftskrise, nicht bewältigte Staatsschuldenkrise, Klimakrise, riesige Migrations- und Fluchtbewegungen, deren sozialen Ursachen oft schon durch klimatische Veränderungen beflügelt wurden, und nun also eine Pandemie unerwarteten Ausmaßes. Der gemeinsame Nenner dieser Krisen ist ein globales Wirtschaftssystem, in welchem dem Streben nach maximalem Profit alles andere untergeordnet werden muss. Wir befinden uns in einer Situation, bei der Mensch und Natur auf kurz oder lang zwangsläufig unter die Räder kommen müssen. Unendliches profitgesteuertes Wachstum ist nämlich nicht vereinbar mit den planetaren Grenzen, die gerade überschritten werden.
Aber profitgeleitetes Wachstum lässt sich unter Marktbedingungen nicht einfach abschalten, denn Unternehmer*innen, die bei dem Streben nach Profitmaximierung nicht mitmachen, können auf dem Markt nicht bestehen und gehen unter. Dieser Mechanismus ist die objektive Ursache für den grenzenlosen Drang nach Profit und dem Streben nach stetigem Wachstum. ‚Profite first!‘ – Ökologie- und Gesundheitssysteme bestenfalls ’second‘ – und auch dann nur, soweit die Absicherung des Profits das erfordert. Denn Produktion für einen Markt heißt immer und zwangsläufig durch Konkurrenz vermittelte, unkontrollierte, unkoordinierte, also letztlich planlose Produktion und deren rücksichtslose Erweiterung. Selbst wenn der Markt überschaubar wäre, würde weiterhin jedes Unternehmen versuchen, seine Konkurrent*innen aus dem Feld zu schlagen. Sowohl das Ökosystem, als auch die Gesundheit und das Leben der Lohnabhängigen sind dem zwangsläufig untergeordnet.
Die kapitalistische Dynamik hat die Produktivkräfte bis zu einem Punkt nie gekannter Entwicklungen und Möglichkeiten entwickelt. Von der Globalität, der Vernetzung und der Digitalisierung bis hin zur Automatisierung. Andererseits stehen wir gerade kurz vor dem Abgrund. Aber gibt es tatsächlich keine Alternativen zu einem Hineingeworfen oder -gestoßen werden? Auch wenn Geschichte sich nicht wiederholt, so kann ihre Betrachtung doch die Blicke für heutige Möglichkeiten schärfen. Von Interesse sollte in diesem Zusammenhang sein, was Karl Marx und Friedrich Engels bereits in jungen Jahren über das Aufkommen und den Durchbruch des Bürgertums, der Bourgeoisie, gegen das feudale Mittelalter schilderten:
„Die Produktions- und Verkehrsmittel, auf deren Grundlage sich die Bourgeoisie heranbildete, wurden in der feudalen Gesellschaft erzeugt. Auf einer gewissen Stufe der Entwicklung dieser Produktions- und Verkehrsmittel entsprachen die Verhältnisse, worin die feudale Gesellschaft produzierte und austauschte, die feudale Organisation der Agrikultur und Manufaktur, mit einem Wort die feudalen Eigentumsverhältnisse den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr. Sie hemmten die Produktion, statt sie zu fördern. Sie verwandelten sich in ebenso viele Fesseln. Sie mußten gesprengt werden, sie wurden gesprengt.“
Was damals die feudalen, sind heute die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse. Sie sind zu Fesseln geworden, was die weit hinter dem Entwicklungsstand zurückbleibende Pharmaforschung und die unzureichende Versorgung mit Medikamenten schlagend beweisen. Erst wenn diese Fesseln und mit ihnen der Zwang zur Profitakkumulation aufgehoben wird, besteht die Möglichkeit, mit den notwendigen und den zur Verfügung stehenden Arbeiten und Arbeitskräften, sowie den natürlichen und menschengemachten Ressourcen zu rechnen und zu planen. Würden die Produktionsmittel der gesamten Gesellschaft gehören, könnte so geplant werden, dass alle arbeiten, dafür aber weniger. Es könnte so gewirtschaftet werden, dass die Grenzen des Ökosystems ganz oben auf der Prioritätenliste ständen – denn Profit und Markt wären beseitigt. Auch der Gesundheitssektor könnte endlich den Stellenwert bekommen, der ihm gebührt. Pandemien und schreckliche Krankheiten ließen sich mit voller Kraft erforschen und bekämpfen. Würden sie dann überhaupt noch auftreten? Die neueren Infektionskrankheiten haben ihre Wurzel fast ausnahmslos im Niedergang der Artenvielfalt und der kapitalistischen Form der Landnutzung, also Monokulturen, rücksichtslose Rodung der Wälder und überbeanspruchte Böden.
Tatsächlich müssten auch bei assoziierter Produktion im Falle einer Pandemie alle eine Weile zu Hause bleiben. Aber niemand müsste zum Beispiel darum fürchten, nach dieser Zeit seinen Job zu verlieren. Denn wo nicht der Profit Sinn und Maßstab der Produktion ist, sondern das Erzeugen nützlicher Gebrauchsgüter, gibt es keinen Grund Produktionsstätten zu schließen, auch wenn diese eine Zwangspause einlegen müssten.
Wir können es drehen und wenden wie wir wollen. Was auch immer die Leistungen der bürgerlichen Gesellschaft waren, die „Eigentumsverhältnisse entspr[e]chen […] den schon entwickelten Produktivkräften nicht mehr“. Ergo müssen sie gesprengt werden!
Wer nicht kämpft, hat schon verloren
Die gute Nachricht: Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ist objektiv soweit fortgeschritten, dass zumindest theoretisch ein gutes Leben für alle möglich wäre. Und die Schlechte? Anders als von Kautsky bis Ulbricht vermutet, gibt es kein heimliches Drehbuch für geschichtliche Entwicklungen und keine Gesetzmäßigkeiten im menschlichen Handeln. Die wichtigste Produktivkraft aber ist, und genau das haben die genannten deutschen Sozialisten sträflich vernachlässigt, der Mensch. Anders gesprochen: Nur wenn in und durch die Krise das massenhafte Bewusstsein entsteht, das eine andere Welt nicht nur möglich, sondern mittlerweile dringend nötig ist, kann der Durchbruch zu assoziierten Gesellschaft gelingen.
Im Zeichen der Corona-Bekämpfung hat Angela Merkel vermeintlich ein Paradoxon entdeckt: Nur durch Abstand zu Anderen könnten wir heute unsere Solidarität unter Beweis stellen. Was tiefgründig daherkommt, entpuppt sich bei genauerer Betrachtung bezüglich eines grassierenden Virus als banale empirische Beschreibung des Offensichtlichen. Der eigentliche Widerspruch dagegen sitzt tiefer. Die Gesellschaft, deren erstes Wort die Konkurrenz ist, ruft plötzlich nach Solidarität. Dabei haben wir alle, die wir in dieser Gesellschaft aufgewachsen sind, zunächst einmal nur gelernt, uns um den eigenen Arsch zu kümmern. Beim Kampf ums Klopapier ist dieses Credo dieser Tage recht eindrücklich zu beobachten. Was dem ein oder anderen diesbezüglich noch ein Schmunzeln über die Lippen jagt, ist in anderen Weltgegenden schon bedrohlicher geworden. Hier schnellen bereits, bedingt durch die Coronapanik, Waffenkäufe in die Höhe: Ein Schalk, wer Böses dabei denkt.
Also „Game Over“? Wenn wir der bürgerlichen Apologetik vertrauen, die in ihrer grenzenlosen Ignoranz den homo economicus, also den Menschen, wie er sich in der von ihr vertretenden Gesellschaftsordnung entwickelt hat, mit dem homo sapiens gleichsetzt, dann unbedingt. Gehen wir diesen Trugschluss nicht mit, sehen wir – neben den ungeahnten neuen technischen Möglichkeiten – auch gesellschaftliche Entwicklungen, die durchaus hoffen lassen: Massive sozialen Kämpfe in Frankreich und Chile, die globale Klimabewegung, die Kämpfe von Mieter*innen, oder die beginnenden Corona-Streiks für temporäre Betriebsschließungen und bessere Sicherheitsstandards. Überall stehen, mal mehr mal weniger hervorgehoben, das bürgerliche Eigentum und die blind wütenden Marktgesetze zur Debatte.
Wie also werden sich die Menschen in der Krisenentwicklung verhalten? Welche Strukturen schaffen und aufbauen? Welche Kämpfe führen, welche Niederlagen erleiden und welche Schlüsse daraus ziehen? Wir wissen es nicht. Aber dass mittlerweile alle Varianten von halbherzigen ‚Lösungen‘ und national beschränkten ‚Kompromissen‘ dahin schmelzen, wie das Polareis, stellt zumindest eine Chance dar. Ebenso der Aspekt, dass in der Krise offensichtlich wird, wie unfähig die Marktprinzipien sind, die anstehenden Probleme zu lösen und zu koordinieren: Ob bei der Entwicklung von Medikamenten, oder der Versorgung mit Krankenhausbetten. Zumindest nach „mehr Markt“ oder der „unsichtbaren Hand“ kräht plötzlich niemand mehr.
„Die Alternative zu globaler Freiheit und Gerechtigkeit ist die weltweite Hölle“ haben Dietmar Dath und Barbara Kirchner vor einigen Jahren mit so viel Berechtigung wie Pathos formuliert. Verblüffend ist lediglich, wie schnell die Wirklichkeit dazu drängt, sich zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden zu müssen. Aber wie heißt es doch so schön; nur wer nicht kämpft hat schon verloren. In diesem Sinne: The future is unwritten!
Christian Hofmann und Philip Broistedt schreiben auf assoziation.info. Im September 2020 erscheint ihr Buch „Goodbye Kapital“ im Papy Rossa Verlag.
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Kurzinfo:
Wir können die Corona-Krise nur mit Blick auf vorherige Krisenverläufe und die kapitalistische Dynamik der letzten Jahrzehnte verstehen. Den weltweiten solidarischen Kämpfen gegen Profitmaximierung und Ausbeutung fällt deshalb eine wichtige Aufgabe zu: Die Fesseln zu sprengen. Ein Debattenbeitrag.
Autor*innen:
Philip Broistedt & Christian Hofmann