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[re:volt] Der Zug fährt ab

© Markus Spiske

Der Zug fährt ab

Innerhalb weniger Wochen hat sich die allgemein als „Corona-Krise“ bezeichnete kapitalistische Gesundheitskrise weltweit rasant verschärft. Mit Ablauf des 10. April 2020 sprechen wir von weltweit fast 1,7 Millionen registrierten Infizierten und von über 100.000 Toten. Die Dunkelziffer der Infizierten dürfte allerdings deutlich höher liegen. Dieser Umstand lässt die Letalitätsrate des Virus zwar vermutlich niedriger ausfallen: Es sterben also prozentual gesehen weniger infizierte Menschen an SARS-CoV-2, als es uns im Verhältnis zu den offiziellen Zahlen erscheint. Gleichzeitig bedeutet die Dunkelziffer aber, dass die Verbreitungsgeschwindigkeit des Virus immens ist. Sie ähnelt mit hoher Wahrscheinlichkeit der der Spanische Grippe von vor über 100 Jahren, an der weltweit zehn Millionen Menschen starben. Außerdem ist die Dunkelziffer der Todesfälle noch gar nicht geklärt; sie scheint ebenfalls recht hoch zu sein. In den besonders betroffenen Regionen – ob das nun Spanien, Italien, Frankreich, die Schweiz oder New York ist – schnellt die „Exzessmortalität“, also das Mehr an Todesfällen über einen Durchschnitt im Vergleichszeitraum der letzten Jahre hinaus, massiv in die Höhe. Aus all diesen Gründen ist SARS-CoV-2 mit keiner noch so schweren saisonalen Grippe zu vergleichen. Wir befinden uns am Beginn einer weltweiten Pandemie.

Die aktuelle Lage wird von der bundesdeutschen Regierung sowie den Landesregierungen genutzt, um sich in unterschiedlichem Maße am Repertoire des Ausnahmezustands zu bedienen. Neben einer generellen gesellschaftlichen Lähmung scheinen auch weite Teile der Linken in eine Schockstarre gefallen zu sein: Obgleich sich viele von ihnen der historischen Zäsur und der möglichen Schlagkraft dieser Krise bewusst werden, kämpfen sie mit Kommunikationsproblemen, der Atomisierung ganzer Zusammenhänge und der Suche nach passenden praktischen und in der Jetztzeit umsetzbaren linken Antworten auf die Verschärfung gesellschaftlicher und politischer Auswirkungen durch SARS-CoV-2. Es herrscht eine weitverbreitete Ratlosigkeit, wie politische Organisation und Praxis – auch außerhalb der virtuellen Netzwerke, im öffentlichen Raum – gewährleistet werden kann; etwa darüber, wie eine Praxis des Umgangs mit den staatlichen Maßnahmen aussehen könnte, die auch über ganz kleinteilige Solidaritätsarbeit im Nahbereich hinausgeht. Welchen Weg haben wir also vor uns? Welche politischen Analysen von links müssen wir angesichts dieses Szenarios anstellen, um uns aus der politischen Passivität zu lösen?

Durch den Höllenschlund: Das globale Gesundheitssystem

Die Infiziertenzahlen wachsen fast überall exponentiell, wie jede_r mittlerweile wissen dürfte. Es besteht die Gefahr, dass kaputt gesparte Gesundheitssysteme weltweit einbrechen – in Italien, Spanien, Großbritannien, den USA und Frankreich ist dies teilweise schon der Fall. Am schwersten scheint es vor allem jene Gesundheitssysteme des globalen Nordens zu treffen, die durch exzessive neoliberale Sparmaßnahmen und weitgehende Privatisierungen kaum noch technische, personelle und finanzielle Kapazitäten haben, um die hohen Fallzahlen aufzufangen. Die Länder des globalen Südens, denen in der Mehrheit diese materiellen Mittel für ein umfassendes Gesundheitssystem erst gar nicht zur Verfügung standen, stehen vor einer humanitären Katastrophe, deren Ausmaß noch nicht abzusehen ist. Schon jetzt sind sie von der Weltwirtschaftskrise am härtesten betroffen. Die Fotos von leidlich abgedeckten Toten in den Straßen ecuadorianischer Städte, die kürzlich um die Welt gingen, lassen aber bereits erahnen, wie verheerend das Virus im Trikont (in Afrika, Lateinamerika und Teilen des asiatischen Kontinents) wüten wird.

In den durch das Virus erschütterten Krisenökonomien des globalen Nordens wird derweil das Krankenhauspersonal mit vollkommen ungenügenden Vorkehrungsmaßnahmen in die Bresche geschickt. Überstunden bis zur völligen Erschöpfung – oder eben der eigenen Covid-19 Infektion – werden Normalzustand. Die Anforderungen an das Krankenhauspersonal, die Fehler und Missstände eines kaputtgesparten, marktorientierten Gesundheitssystems zu kaschieren oder nun dafür mit 12-Stunden-Tagen einzustehen, sind enorm. In den von der EU-Troika kaputt privatisierten Ländern werden bereits jetzt nur noch diejenigen zur Behandlung ausgewählt, die größere Überlebenschancen haben. Andere Menschen werden angesichts der Überlastung der Gesundheitssysteme in den Tod geschickt. Die Anzahl an Beatmungsgeräten, die den Unterschied zwischen Tod und „nur“ schwerem Krankheitsverlauf bei Covid-19 ausmachen können, ist überall sehr beschränkt. Mittlerweile ist klar, dass nicht nur „sehr alte Menschen“ von den Folgen der Erkrankung betroffen sind: In den USA sind 40 Prozent der ins Krankenhaus eingelieferten Personen zwischen 20-54 Jahre alt, sie beanspruchen 14 Prozent aller Intensivbetten. Es trifft vor allem die Menschen jeden Alters, die übliche „Volkskrankheiten“ wie beispielsweise Diabetes, COPD oder Bluthochdruck aufweisen, oder Menschen mit geschwächtem Immunsystem. Mit diesen Krankheiten lassen sich normalerweise Jahre, wenn nicht Jahrzehnte leben; diese Menschen stehen nicht alle, wie der neue sozialdarwinistische Zynismus meint, sowieso „kurz vor dem Tod“. Zudem lassen sich Langzeitschäden, Mutation des Virus und Effektivität von Immunreaktionen noch gar nicht genau abschätzen.

Gerade deshalb – und entgegen aller Verschwörungstheorien, die von einer Inszenierung oder einem Kalkül der „Herrschenden“ sprechen – mag es auf den ersten Blick vielleicht verwundern, warum insbesondere die Staaten des Westens so langsam und behäbig auf das Virus reagierten. Erste Fälle wurden in Europa schließlich schon Mitte Januar gemeldet. Zu diesem Zeitpunkt hatten die chinesischen Behörden auch schon längst über die Gefahren des Virus informiert. Statt zu handeln, tönte es über alle Kanäle, man sei gut vorbereitet. Das Virus sei letztlich wie eine Grippe; man solle in den Auswirkungen nicht übertreiben. Als sich Covid-19 dann ab Anfang März – bedingt durch den Skitourismus, Festivals, Karneval, Fußball und ähnliche Großereignisse – rasend schnell in Europa verbreitete und die Situation in Norditalien schon unglaublich heftig war, da zauderten viele europäische Regierungen noch immer. Wie ist das zu erklären?

„Akkumuliert! Akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“ (Marx)

Es hat einen ganz handfesten Grund, warum diese Staaten so spät – und dann auch noch recht inkonsequent – reagiert haben. Er nennt sich kapitalistische Akkumulation. [1] Schnell war klar, auch aus historischen Erfahrungen, dass die weitestgehend mögliche Verringerung körperlicher Kontakte zwischen Menschen – als Social oder Physical Distancing bekannt – das effektivste Mittel ist, die Beschleunigung der Pandemie aufzuhalten. Ziel ist, Zeit zu gewinnen, um weiterführende Maßnahmen (bis hin zu einer künftigen Impfung) zu ergreifen. Die Kontaktvermeidung kann allerdings nur durch Eingriffe in den Wirtschaftskreislauf umgesetzt werden. Das geschah dann auch, in Deutschland ab Anfang März. Mit gravierenden ökonomischen Folgen: Unterschiedliche Prognosen für die Bundesrepublik gehen mittlerweile von einem Wirtschaftseinbruch zwischen drei und 20 Prozent und von einer Steigerung des Staatsdefizits von mindestens 15 Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Der Internationale Währungsfonds (IMF) geht mittlerweile von der schwersten Weltwirtschaftskrise seit 1929 aus. Es ist offensichtlich, dass sich Kapitalist*innen und ihre Staaten um ein solches Szenario drückten.

Gleichzeitig: In einem 17-seitigen, geleakten „Expert_innen-Papier“ des Bundesinnenministeriums wird ein Szenario entworfen, in dem eine unkontrollierte Explosion der Pandemie bis zu zwei Millionen Tote und einen Zustand der „Anarchie“ hervorbringen könne. Das liegt selbstverständlich auch nicht im Sinne kapitalistischer Akkumulation, noch der dominanten politischen und wirtschaftlichen Machtakteur_innen im Staatsapparat. Ähnliche machttaktische Überlegungen dürften die wohl großmäuligsten und wirkmächtigsten „Corona-Truther“ des Planeten, die rechten Präsidenten Donald Trump (USA), Jair Bolsonaro (Brasilien) und Boris Johnson (Großbritannien), dazu gebracht haben, von der Strategie der „Herdenimmunität“ abzuweichen. Diese Strategie ist ein grob fahrlässiges Szenario, in dem unabschätzbar viele Tote und Geschädigte in Kauf genommen würden. Aber nur wenige Wochen nach dem Eingeständnis ihrer Notwendigkeit pochen in Europa, wie auch in den USA, unterschiedliche Teile der (neoliberalen) Bourgeoisie nervös darauf, die Maßnahmen endlich zu beenden.

Erst die Ware, dann das Menschenleben

Im Ringen um das Zurückfahren der Maßnahmen wird klassischerweise auf die Folgen für „die Wirtschaft“ verwiesen. Der texanische Vize-Gouverneur Dan Patrick (Republikaner) war nur der konsequenteste unter diesen Stimmen, als er US-amerikanische Senior*innen in einem Interview aufforderte, für ihre Enkel (beziehungsweise „die Wirtschaft“) zu sterben. Wissenschaftler*innen rechnen schon methodisch penibel genau aus, wann es sich wirtschaftlich nicht mehr lohnt, ein Leben zu retten. In Deutschland sind es neoliberale Kräfte, allen voran die FDP unter ihrem zuletzt krisengebeutelten Bundesvorsitzenden Christian Lindner, die nun politische Morgenluft wittern. Die FDP fordert, der Warenverkehr dürfe nicht zu Lasten gesundheitspolitischer Maßnahmen behindert werden. Praktisch heißt das: Die Produktion und die Wertschöpfung muss unter allen Umständen aufrecht erhalten werden. Profit vor dem Menschenleben der lohnabhängigen Klassen.

Dass jedoch Warenverkehr nicht ohne jene ausgebeuteten Klassen, die die Werte erst schaffen, funktioniert, leuchtet den Neoliberalen ein. Dies ist vor allem in der Agrarindustrie zu spüren. Die Beschränkung des Personenverkehrs auf europäischer Ebene trifft beispielsweise die Landwirtschaft schwer – und dort vor allem die niedrigentlohnten Saisonarbeiter*innen, von denen ein Großteil Frauen* sind. Für sie gibt es keine Rettungspakete. Nun werden Ausnahmen für bulgarische und rumänische Arbeiter*innen geschaffen: Sie sollen die auf den Feldern der Republik zur Arbeit gehen können, um den heiligen Spargel „zu retten“. Die eilig herbeigerufenen Arbeiter*innen, die auch in Spanien und Italien häufig illegalisiert und ohne jeglichen arbeitsrechtlichen Mindestschutz arbeiten, stellen in der europäischen Landwirtschaft als billige und meist entrechtete Arbeitskräfte das Rückgrat der hiesigen Lebensmittelversorgung dar. Eine Zuspitzung wurde mit dem Aufruf der Landwirtschaftsministerin zur Arbeit von in Deutschland befindlichen Geflüchteten und Erwerbslosen in der Ernte ins Spiel gebracht. Die Spirale der sowieso schon prekären Saisonarbeiten dreht sich weiter nach unten: noch billiger, noch entrechteter, noch schneller verfügbar.

In allen kapitalistischen Staaten, insbesondere aber in jenen des Westens, können wir gerade sehen, wie die Regierungen angesichts der Corona-Krise je nach Risikoeinschätzung und -wagnis versuchen, sich irgendwo zwischen kurzfristigen und mittel- bis langfristigen Interessen der kapitalistischen Akkumulation zu positionieren. Dabei wird im Vorgehen auf den durchschnittlich minimalsten Schaden kalkuliert. Staaten, die sich im Hinblick auf mögliche Folgeschäden für ihre jeweiligen kapitalistischen Wirtschaften nicht zu viel leisten können oder wollen, tun hingegen dezidiert wenig. Im Westen wäre das Paradebeispiel hierfür im vergangenen Monat Schweden. Aber auch erzautoritäre und protofaschistische Regime können sich Autoritarismus und Faschisierung nicht einfach nur um der eigenen Machtgeilheit willen leisten, wie uns manche populäre kritische Theorien zum „Ausnahmezustand“ glauben lassen wollen. Die Türkei hat bis zu diesem Wochenende und seiner erratischen 48-Stunden-Verordnung von wenigen Ausnahmen abgesehen keinen Ausnahmezustand verhängt. Es heißt, Erdoğan höchstpersönlich sei dagegen gewesen – trotz Drängen des Gesundheitsministers und des Wissenschaftsrates. Und das nicht ohne Grund: Die kapitalistische Wirtschaft in der Türkei würde sonst vermutlich recht schnell kollabieren.

Zwischen autoritärer Verschärfung und neoliberaler Restauration

Während sich die unterschiedlichen Machtblöcke also gemäß ihrer kapitalistischen Logiken positionieren und handeln, hinken wir als Linke wieder einmal hinterher. Es sind Krisenzeiten, in denen die größten Chance bestehen, Hegemonien zu brechen und neue zu schaffen – oder eben auch alte zu restaurieren. Vor unserer aller Augen manifestieren sich gerade zwei der letztgenannten Tendenzen: nämlich die der autoritären Verschärfung und die der neoliberalen Restauration, also Konsolidierung der neoliberalen Ordnung.

Nach anfänglichem Zögern konnte sich die deutsche Bundesregierung dazu durchringen, umfassendere Maßnahmen, wie zum Beispiel die Schließung des Großteils der Geschäfte und Kontaktverbote zu verabschieden. Es wurden aber auch Maßnahmen sozialer Art getroffen, von denen es unter streng neoliberaler Ägide seit Jahrzehnten hieß, sie seien aus ökonomischer Erwägung heraus nicht machbar: So gibt es derzeit ein vergleichsweise repressionsfreies und quantitativ stark erweitertes ALG-Regime der Arbeitsagenturen und Jobcenter, das Kurzarbeitergeld wird vergleichsweise komplikationslos gezahlt, an mehrere Millionen Selbständige und Freiberufler*innen werden Hilfsgelder zur Überbrückung herausgegeben, hohe Summen in die Krankenhäuser und den Ausbau von Intensivreserven gesteckt und es findet sogar eine beschränkte Produktionskonversion statt: Der Fahrzeughersteller VW produziert Schutzmasken-Teile, der Jägermeister-Konzern Alkohol für Desinfektionsmittel.

Klar: Die weitaus größten Summen der im Maximalfall fast 30 Prozent des BIP ausmachenden Gelder und Kreditgarantien gehen indes an die großen Unternehmen, die ganz ohne Schamesröte weiterhin Milliarden an Dividenden an irgendwelche Kouponschneider auszahlen. Die verabschiedeten Sozialpakete betreffen eine Minderheit der Werktätigen. Und nicht zuletzt ist auch die de facto Ausgangssperre nur für diejenigen, die eine gute Unterkunft und einigermaßen finanzielle und soziale Stabilität besitzen, eine „Geduldssache“. Alle derzeit getätigten Notmaßnahmen und alles Gelaber von „Solidarität“ seitens der Politik ist Augenwischerei angesichts des neoliberalen, profitorientierten Umbaus des Gesundheitssystems der letzten Jahrzehnte. Dennoch: Das Bedienen von Kapitalinteressen einerseits und das gleichzeitige – wenn auch vorläufige, beschränkte und viel zu rudimentäre – Abfedern sozialer Deklassierung andererseits zeigt, dass sich die Bundesregierung in ihrer Rolle als „ideellem Gesamtkapitalisten“ derzeit aktiv bemüht, den Spagat zwischen Gesundheits- und Sozialpolitik einerseits sowie Kapitalinteressen andererseits zu meistern.

Die Interpretation von Ereignissen wird aber hauptsächlich von denen bestimmt, die heute handeln und in ihren Handlungen so viele Interessen und Bedürfnisse wie eben möglich in ein politisches Regime zu integrieren vermögen. Das nennt sich politische Hegemonie. In Deutschland setzt gerade ein neoliberales Regime der Pandemiebekämpfung sachdienliche Maßnahmen und Vorgehensweisen um, gekoppelt mit einem sozialen Anstrich. Zugleich aber sind die Maßnahmen aus epidemiologischer Sicht nicht konsequent genug: Eigentlich hätte die gesamte nicht-lebensnotwendige Produktion heruntergefahren werden müsen für einige Wochen. Aber das wäre dann wiederum zu sehr in die Profite der Unternehmen hineingefahren. Die pro-kapitalistische Schlagseite des zaghaften Vorgehens und auch der verabschiedeten Krisenpakete ist eindeutig. Und auch die ordnungstreue, immer mehr polizeistaatliche Schlagseite der politischen Praxis tritt immer mehr ans Tageslicht.

Die zwei Gesichter des Regierungshandelns

Die beiden Elemente – Schutz kapitalistischer Profite mit autoritären Maßnahmen und semi-vernünftige Pandemiebekämpfung mit sozialem Anstrich – lassen sich zwar in der Analyse voneinander separieren, sie treten in der Praxis aber geeint auf. Diese Elemten werde zudem von ihren Akteur*innen diskursiv als notwendig miteinander verknüpft dargestellt. Das kann vor allem deshalb überzeugen, weil es die Bundesregierung ist, die tatsächlich handelt, und ihr Maßnahmenbündel eben auch viele „vernünftige“ Elemente enthält.

Die Zustimmungswerte zu den Maßnahmen der Bundesregierung sprechen eine klare Sprache. Das Vorgehen der Bundesregierung ist somit auch ein Versuch, eine veritable Restauration des zumindest in der Bevölkerung eigentlich diskreditierten Neoliberalismus einzuleiten. Wenn das weiter so unwidersprochen durchexerziert werden kann, wird sich eines Tages nach dem Ende der Krise ein Finanzminister Olaf Scholz (SPD) hinstellen können und sagen: „Seht ihr, dafür haben wir den Arbeitsmarkt dereguliert und die staatlichen Sozialausgaben zurückgefahren, damit wir eine schwarze Null haben für Krisenzeiten. Deshalb machen wir das jetzt gleich wieder!“ Das wird genau dann fatal, wenn es dann um die sich schon in voller Eskalation befindende Weltwirtschaftskrise geht.

Verständlich, aber politisch fatal ist indes, sich als Linke derzeit einzig oder hauptsächlich auf eine Kritik der polizeistaatlichen und sonstigen willkürlichen Extreme der Krisenbewältigung zu fokussieren. Es ist glasklar: Alles, was an dieser Sicherheitsordnung und ihrer Polizei schon immer Scheiße war, hat sich derzeit unter dem Ausbau ihrer Befugnisse und des Kontrollauftrags nur noch verschärft. People of Color und Schwarze Menschen werden noch öfter in rassistischen Polizeikontrollen drangsaliert; Obdachlose noch schlechter behandelt und gegängelt; demonstrieren und streiken darf man derzeit ohnehin nicht, ohne mit Strafanzeige oder Polizeigewalt rechnen zu müssen. Was in dieser Hinsicht gerade unter dem Deckmantel „vernünftiger Maßnahmen“ passiert, wird potentiell einer autoritären Hegemonie den Boden bereiten, sollte die derzeitige neoliberale Krisenbewältigungsstrategie an die Wand fahren. Zu diesem Szenario könnte es etwa dann kommen, wenn die Wirtschaft und/oder die Europäische Union (EU) kollabieren und/oder die Zahl der Toten und Beschädigten drastisch in die Höhe schießt. Wo sich hier dann keine stark artikulierende und organisierende Linke als Alternative präsentiert, droht der protofaschistische Takeover. Das Beispiel Ungarn zeigt uns, wohin uns das führen kann: In eine neoliberale de facto Diktatur mit weitgehenden staatlich-repressiven Maßnahmen. Es braucht aber nicht gleich ein deutscher Orban kommen: Die derzeitige Ausweitung der polizeilichen Befugnisse und ihrer Willkür können einfach nicht mehr „zurückgedreht“ werden. Auch das ist schon schlimm genug.

Dennoch: Alle Kritik an und Opposition zur Verschärfung des Autoritarismus, zu polizeistaatlichen Maßnahmen und zu Einschränkungen von Grundrechten werden ineffektiv bleiben, wenn sie nicht mit einer mindestens ebenso effektiven Pandemiebekämpfungsstrategie wie der derzeitigen verknüpft werden. Theoretisch wie praktisch. Allerdings muss diese dann eine klare Perspektive links der Bundesregierung eröffnen, und damit den Kapitalismus neoliberaler Prägung als zentralen Katalysator der Krise ins Visier nehmen. Unserer Meinung nach besteht unsere Aufgabe derzeit darin, genau für eine solche Perspektive zu streiten. Notwendigerweise schließt dies mit ein, diese Perspektive und daraus resultierende Maßnahmen jetzt, und wenn nicht anders möglich, ganz kleinteilig umzusetzen. Hierzu gibt es in vielen linken Strukturen schon gute Ansätze, die wir im re:volt magazine in den kommenden Wochen näher beleuchten wollen. Wer nur darüber diskutiert, wie wir mit der Situation nach der Corona-Krise umgehen sollten, oder wie wir die dann eventuell einsetzende Wirtschaftskrise von links auffangen, der sorgt dafür, dass wir nach der Corona-Krise gerade nicht mehr, sondern weniger Handlungsmacht besitzen. Denn nur inmitten der Bewältigung der Corona-Krise wird entschieden werden, wessen Interessen und welche Hegemonie sich für die Nach-Corona Zeit durchsetzen.

Linke Perspektiven erstreiten

Wenn es eine gute Sache an dieser Krise gibt, dann die, dass sie nicht nur aufzeigt, wie der Kapitalismus zur Entstehung gesundheitlicher Krisen wesentlich beiträgt. Sie zeigt auch, in aller Deutlichkeit, dass das neoliberale Mantra der Profitmaximierung und des „Marktes“ im Angesicht von Pandemien nicht funktioniert. Die ganzen staatlichen Programme – inklusive die über Nacht unter staatliche Leitung gefallenen privaten Krankenhäuser in Spanien und die Diskussion ähnlicher Maßnahmen in anderen Ländern – zeigen uns (da aus gänzlich anderen Motiven umgesetzt) im Negativbild auf, dass linke Vorstellungen einer nicht-kapitalistischen, bedürfnisorientierten Umorientierung durchaus machbar sind. Aber nur, wenn diese eben auch durch eine Linke in der Krise selbst thematisiert, organisiert und erkämpft werden. Die Streiks der Arbeiter_innen in Italien und den USA zeigen, dass ein teilweiser Lockdown der nicht-lebensnotwendigen Produktion durchaus auch schon heute erstritten werden kann, ohne zu Lasten der Arbeiter_innen zu gehen.

In Sinne einer linken, demokratischen Perspektive müssen wir natürlich auch die polizeistaatlichen Maßnahmen kritisieren und im Einzelfall genau überprüfen, was der Pandemiebekämpfung dient, und was nur dem Ausbau des repressiven Staatsapparats. Reservist_innen der Bundeswehr, die zivile Aufgaben übernehmen und helfen, könnten unter Umständen vernünftig sein; bewaffnete Soldat_innen, die polizeiliche Funktionen übernehmen, ganz klar nicht. Keine Großveranstaltungen unter beengten Verhältnissen mehr abzuhalten ist vernünftig, jeden Protest und jede politische Ansammlung, die sie sich an gesundheitliche Auflagen hält, zu verbieten oder seitens der Gewerkschaften gleich proaktiv absagen, ist zu kritisieren und unter heutigen Umständen abzulehnen.

Weitere Anknüpfungspunkte für eine linke Offensive können Forderungen sein, die schon in größeren Teilen der Bevölkerung Anklang gefunden haben: Wir müssen jetzt dafür streiten, dass die sozialen Maßnahmen (Lohnfortzahlungen, Hilfsleistung für prekäre Selbständige, Arbeitslosenhilfen und so weiter) für den Großteil der Werktätigen verstärkt werden. Eine zentrale Stellung in unseren Forderungen sollten die Schutzmaßnahmen für die weiterarbeitenden Lohnabhängigen in Verkauf, Gesundheit, Erziehung, Reinigung und sonstigen Sektoren einnehmen. Eine schrittweise Reduzierung und Aufhebung der Pandemie-Maßnahmen hat sich am Gemeinwohl zu orientieren, nicht nach den Profitinteressen der Kapitalist*innen. Die Abkehr vom neoliberalen Paradigma gilt es auch in Debatten und Diskussionen zu forcieren und auf Vergesellschaftungen und Rekommunalisierungen zu drängen. Die Finanzierungsfrage der Maßnahmen beantworten wir mit der Forderung von Vermögensabgaben für die Reichsten.

Auch die Rolle der (Basis-)Gewerkschaften wird wichtiger werden. Linke Positionen müssen sich deutlich gegen eine Abwälzung der Krisenkosten auf die Arbeitenden stellen – noch bevor die Rezession nach unten weitergereicht wird. Die soziale Frage muss besetzt werden, bevor rechte Kräfte die entstehenden sozialen Widersprüche weiter für sich nutzen.

Nicht zuletzt müssen wir die Bedeutung der Care-Arbeit ins Spiel bringen: Jeden Abend um 21:00 Uhr wird zwar kräftig für die Arbeitenden im Gesundheitssektor applaudiert, geschwiegen wird dabei allerdings über Lohnerhöhungen, bessere Arbeitsbedingungen und gemeinwohl- statt profitorientierte Gesundheitssysteme. Still ist es auch darüber, dass ein Großteil der mies bezahlten Care-Arbeiten von Frauen* gemacht werden – von der unbezahlten Care-Arbeit und Erziehungsarbeit mal abgesehen, die jetzt auch wieder ganz individuell zu lösen ist. Der gesamte Bereich der Erziehung, Pflege, Familienarbeit und weitere, die unser aller Wohlergehen betreffen, ist in unserer Gesellschaft das Rückgrat, ohne das kaum etwas anderes möglich wäre. Systemrelevant ist also vielleicht sogar noch nicht treffend genug – und eine angemessene Honorierung dieser Berufs- und Arbeitsfelder längst überfällig.

Die Linke muss unter den verschärften politischen wie gesellschaftlichen Bedingungen ihre Handlungsfähigkeit wiedererlangen. Aktuell sehen sich viele Strukturen aufgrund der ordungspolitischen und gesundheitlichen Beschränkungen einer Vereinzelung ihrer Mitglieder und absurderweise einer politischen Perspektivlosigkeit ausgesetzt. Dabei ist genau jetzt der Zeitpunkt, linke Gegenmodelle zum herrschenden aufzuzeigen und dafür zu streiten. Also packen wir es an!

Anmerkungen:

[1] Das kapitalistische System ist auf die Maximierung des Profits ausgelegt, der durch die Ausbeutung fremder Arbeitskraft erwirtschaftet wird, und somit auf die Maximierung von Reichtum in Form von Kapital bei Strafe des Untergangs, wofern nicht akkumuliert wird. Das ist mit kapitalistischer Akkumulation gemeint. Alles, was dem Prozess entgegenläuft, diesen Profit zu vergrößern, wird vom Kapital bekämpft. Marx hat die zwiespältigen Eigenschaften des Kapitals sehr gut beschrieben: „Kapital […] flieht Tumult und Streit und ist ängstlicher Natur. Das ist sehr wahr, aber doch nicht die ganze Wahrheit. Das Kapital hat einen Horror vor Abwesenheit von Profit oder sehr kleinem Profit, wie die Natur vor der Leere. Mit entsprechendem Profit wird Kapital kühn. Zehn Prozent sicher, und man kann es überall anwenden; 20 Prozent, es wird lebhaft; 50 Prozent, positiv waghalsig; für 100 Prozent stampft es alle menschlichen Gesetze unter seinen Fuß; 300 Prozent, und es existiert kein Verbrechen, das es nicht riskiert, selbst auf Gefahr des Galgens.“ (MEW, Bd. 23, S. 788)

 


 

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Kurzinfo:
Aktuell haben viele linke Strukturen mit politischer Perspektivlosigkeit zu kämpfen. Dabei ist es jetzt an der Zeit, die Weichen für eine linke Bearbeitung neu auszurichten und den Kapitalismus neoliberaler Prägung als zentralen Katalysator der Krise ins Visier zu nehmen. Gehen wir es an!

Autor*innen:
Redaktion

 


 

Quelle: www.revoltmag.org/articles/der-zug-fährt-ab/

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